Saatzucht ist Zukunft
Welche Farben, welche Formen, welche Unterschiede in den Größen und Oberflächenbeschaffenheiten, welche Anpassungsfähigkeit und Lebenskraft! Wenn Annegret Rose von Saatgut spricht und dabei die kleinen Körner in den Händen hält, so sind Begeisterung und Ehrfurcht spürbar. Seit 30 Jahren leitet sie den Erfurter Vermehrungs- und Zuchtbetrieb „Rose Saatzucht“, der deutschlandweit zu den größten seiner Art zählt.
Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren Betrieb: Seit wann gibt es Rose Saatzucht, wer gehört alles dazu, und was produzieren Sie hier?
Rose Saatzucht gibt es seit 1993. Der Betrieb wurde damals aus dem VEG Saatgut Zierpflanzen ausgegründet. Wir haben zu viert begonnen; inzwischen sind wir je nach Saison durchschnittlich 20 Gärtner, Diplom-Züchter, -Landwirte und -Ingenieure und auch Quereinsteiger, die hier in der Ebene am Erfurter Stadtrand etwa 85 ha bewirtschaften. Wir vermehren Saatgut von Gemüse, Heil- und Gewürzpflanzen, einjährigen, zweijährigen und staudigen Blumen sowie Wildpflanzen. Außerdem betreiben wir Erhaltungszucht für einige Gemüsesorten, wie z. B. den Grünkohl „Lerchenzungen“, die Petersilie „Einfache Schnitt“, den Spinat „Verdil“ oder den Porree „Freezo“. Insgesamt haben wir mehr als 200 verschiedene Arten und Sorten. Manche wachsen auf 2 oder 3 ha, manche nur auf 100 m² – das ist pflanzen- und aufgabenabhängig ganz unterschiedlich.
Wie funktioniert das mit der Vermehrung?
Wir bekommen Anfragen von Firmen, v. a. Bingenheimer, aber auch aus der Schweiz, Österreich, Holland, Frankreich. Dann besprechen wir jeweils im Winter, welche Sorten in welchen Mengen gebraucht werden, zu welchen Standorten sie passen und welches Ausgangsmaterial – das der Firmen oder unser eigenes – wir verwenden. Das ist ein wesentlicher, gemeinsamer Prozess. Die Aussaat erfolgt direkt ins Freiland, oder wir ziehen im Gewächshaus Jungpflanzen vor. Dann gilt es, die Pflanzen zu bewässern und zu pflegen und wiederholt hinsichtlich ihrer Sortenechtheit zu prüfen. Je nach Art werden die reifen Samenstände oder auch die ganzen Pflanzen selektiv in mehreren Durchgängen mit der Hand (z. B. Rittersporn, Astern) oder einmalig mit der Maschine (z. B. Spinat, Feldsalat) geerntet. Dann kommen sie in die Trocknung. Anschließend werden sie über verschiedene Stufen gereinigt und abgepackt. Bevor wir die Samen verkaufen, führen wir Keimproben durch, um sicherzugehen, dass die Qualität stimmt.
Und was genau bedeutet „Erhaltungszüchtung“?
Auch für die Erhaltungszüchtung fragen uns die genannten Firmen an, und auch hier ist es ein gemeinsamer Prozess. Dabei geht es allerdings darum, Sorten zu erhalten. Dafür selektieren wir Elitepflanzen, also Pflanzen, die das Sortenbild in Vollendung verkörpern. Beim Porree sind wir zum Beispiel im April übers Feld gegangen und haben die schönsten Porreepflanzen ausgesucht, d. h. diejenigen, die die richtige Farbgebung, die richtige Blatthaltung, die richtige Blattbreite, den richtigen Gesamteindruck zeigten. Diese haben wir ausgegraben, sie nochmal nebeneinandergelegt, geprüft und nachsortiert und die verbleibenden Pflanzen ins Folienhaus gepflanzt, damit sie hier unter kontrollierten Bedingungen abblühen konnten. Aus ihrem Saatgut entstehen dann die nächsten Vermehrungsbestände, mit denen wir oder andere Firmen verkaufsfähiges Saatgut kultivieren.
Was ist, wenn Pflanzen „besser“ erscheinen als die Sorte, die Sie erhalten sollen?
Manchmal passiert es tatsächlich, dass Pflanzen dem Sortenbild nicht entsprechen, aber einen besonders guten Eindruck machen. In so einem Fall kann man sich auf den Weg begeben, daraus eine neue Sorte zu züchten. Das ist dann ein Prozess von durchschnittlich 5 bis 10 Jahren.
Betreiben Sie selbst denn Neuzüchtung?
Unser Kerngeschäft ist Vermehrung und Erhaltung. Und in der aktuell nicht einfachen Zeit – wir haben sehr mit den schwierigen Wetterbedingungen, sinkenden Erträgen, steigenden Lohnkosten und fehlendem Nachwuchs zu tun – müssen wir uns verstärkt darauf konzentrieren. Dementsprechend ist die Neuzüchtungsarbeit zurzeit bei uns sehr eingeschränkt.
Es gibt aber eine Ausnahme, nämlich unsere Sommeraster. Sie ist eine echte Erfurterin, eine einjährige Sommerblume, die gut mit der Hitze und Trockenheit zurechtkommt und eigentlich viel mehr ins Stadtbild gehört. Hier haben wir einige Sortenanwärterinnen, die sich durch eine besonders langanhaltende und üppige Blütenpracht auszeichnen und ein relevantes Merkmal haben, das den Pflegeaufwand im Beet minimiert: Sie „putzen sich selbst“, d. h. die jungen Blüten überragen stetig die älteren Blüten. So sehen die Pflanzen immer gepflegt aus.
Wie erkennen Sie solche Sortenanwärterinnen?
Wenn wir z. B. durchs Asternfeld gehen, ziehen uns manche Pflanzen durch ihre auffallende Schönheit an. Sie haben etwas, das uns immer wieder dahin lockt. Sie wollen betrachtet werden. Und sie zeigen ihren Liebreiz über eine lange Zeit hinweg. Solche Einzelpflanzen werden markiert, regelmäßig betrachtet und auch beurteilt, extra beerntet und im nächsten Jahr als Einzelpflanzennachkommenschaft ausgesät. Dann hat man entweder das unerhörte Glück, dass alle Tochterpflanzen gleich aussehen – oder sie spalten auf. Damit beginnt die Selektionsarbeit, mit der wir erreichen wollen, dass die Tochtergenerationen in Farbe, Form und Wuchstyp weitestgehend einheitlich sind. Wenn das über mehrere Jahre gelingt, ist eine neue Sorte entstanden. Sie ist ausgeglichen und zeigt dauerhaft und zuverlässig ihr beschriebenes Sortenbild. Das versteht man unter samenfest.
Leider ist die Aster in den letzten 20 Jahren etwas aus der Mode gekommen – und für Blumen ist im Moment ohnehin keine leichte Zeit. Wenn jeder schon beim Gemüsekauf auf den Cent schaut, dann umso mehr bei Blumen! Ich wurde bis vor zehn Jahren oft gefragt, warum man denn auch diese ökologisch produzieren muss, da man sie doch gar nicht isst. Da sind wir bisher nicht wesentlich weitergekommen. Aber wenn man bedenkt, dass Blumen etwas viel Feineres als unseren Magen ansprechen, sollten wir erst recht darauf achten, dass sie in angemessener Weise kultiviert werden.
Warum produzieren Sie denn ökologisches Saatgut?
Ökologischer Anbau ist für mich eine Grundeinstellung. Vor 32 Jahren haben meine Geschwister und ich gemeinsam mit unseren Eltern entschieden, unseren elterlichen Hof in Sachsen-Anhalt ökologisch zu bewirtschaften. Diesen Gedanken habe ich mit nach Erfurt genommen und hier, als wir im Samenanbau sicher genug waren, auch umgesetzt. Wir arbeiten ohne mineralische Düngemittel und ohne synthetische Pflanzenschutzmittel, nach den Grundsätzen einer gesunden Fruchtfolgegestaltung und nach den Demeter-Richtlinien. Wir gehen sorgsam mit unseren Böden um, damit die sehr hohe Bodenfruchtbarkeit, die wir hier im Thüringer Becken glücklicherweise haben, erhalten bleibt und wir sie an nachfolgende Gärtnergenerationen weitergeben können. Und wir bauen widerstandsfähige Pflanzen an, die gesunde und vitale Samen ausbilden.
Ein Thema ist hier der Klimawandel …
Ja, die Witterungsbedingungen verändern sich – das ist eine klare Ansage für unsere Vermehrungs- und Züchtungsarbeit. Die Pflanzen müssen toleranter gegenüber den immer schärfer werdenden Wetterextremen werden. Ich denke, da geben wir dem Saatgut schon jetzt viel mit, und zwar nicht nur das Sortenbild, sondern auch einen Herkunftswert: Indem wir die Pflanzen unter unseren Klimabedingungen kultivieren, erhält das Saatgut das Rüstzeug, unter genau diesen Bedingungen zu gedeihen.
Darüber hinaus sind aber noch weiterführende Maßnahmen notwendig. Im Moment arbeiten wir hierzu an verschiedenen Projekten. In einem prüfen wir, ob sich die Pflanzenentwicklung mit Hilfe von Pflanzenhydrolaten unterstützen und stabiler gestalten lässt. So soll die Pflanze einerseits selbst die Witterungsextreme besser aushalten und bis zur vollständigen Samenreife kommen und andererseits entsprechende Informationen in das Saatgut geben.
Die Stärkung von Pflanzen und Saatgut ist der eine Weg. Der andere ist zu schauen, welche Kulturen mit dem sich ändernden Klima zurechtkommen. In diesem Jahr war es lange viel zu kalt, aber in den fünf vorhergehenden Jahren konnten wir viele Sorten wie Paprika, Auberginen und Melonen im Freiland anbauen, und das ging hervorragend. Da sind wir kontinuierlich am Testen.
Sie bauen mehr als 200 Arten und Sorten an. Wäre es nicht einfacher, sich auf weniger zu konzentrieren?
Das wäre natürlich einfacher, aber damit hätten wir ein weniger vielfältiges Angebot und wären leichter auswechselbar. Außerdem ist die Vielfalt eine Versicherung – wir wissen ja nicht, wie das Jahr wird. Im Samenbau hat man wesentlich mehr Risiken als im normalen Getreide- oder Gemüseanbau. Meistens werden die Früchte ordentlich, aber was beim Bestäuben stattfindet oder nicht stattfindet oder wie die Keimfähigkeit ausgeprägt ist, das merkt man erst, wenn alle Arbeiten getan sind: Ernte, Trocknung, Reinigung.
Letztes Jahr z. B. war ein sehr gutes Spinatjahr. Wir hatten 3 ha Spinat, so viel wie noch nie, und konnten nicht nur 3 t, sondern 6 t Saatgut ernten. Das war toll – bis zu dem Moment, als die Nachricht kam: Es keimt nicht. Das war nicht zu fassen: Auf dem Feld war doch alles grün von keimendem Spinat! Wir haben dann nochmal 1/3 rausgereinigt, um die nötige Keimfähigkeit zu erreichen und es verkaufen zu können.
In der Regel ist mit Ausfällen von einem Viertel, manchmal auch von einem Drittel zu rechnen – das müssen die anderen Bestände dann mittragen. Und da hilft die Vielfalt.
Was passiert denn, wenn Sie einmal nicht so viel Saatgut liefern können wie vereinbart?
Samenbau ist risikovoll, das wissen natürlich auch unsere Partner. Insofern ist die Zusammenarbeit v. a. eine Vertrauensfrage: Wie gut können wir miteinander arbeiten?
Wichtig ist, dass wir die Entwicklung der Pflanzen genau beobachten und in Verbindung bleiben, um bei Abweichungen den Abnehmer zügig zu informieren, damit er bei zu erwartender Miss- oder Überernte schnell agieren kann. Da kommt es also sehr auf Verlässlichkeit und Kommunikation an. Es muss eine funktionierende Partnerschaft auf Augenhöhe sein, sonst wird es nichts Gutes.
Aktuell wird über die Deregulierung von Pflanzen und Saatgut diskutiert, die mit neuer Gentechnik hergestellt werden. Wie stehen Sie dazu?
Dass Neue-Gentechnik-Pflanzen nicht mehr unter Gentechnik fallen sollen, ist absurd und wäre eine Katastrophe für alle, die samenfestes Saatgut wollen! Wir wissen nicht, wie sich solche Pflanzen verhalten. Speziell bei Fremdbefruchtung können sich die genetischen Informationen überall in andere Sorten der gleichen Art einkreuzen und die bestehenden Sorten kaputt machen. Die EU hat das vorgeschlagen und drängt seit Jahren immer wieder darauf, aber der Vorstoß war noch nie so massiv wie jetzt. Dabei will die Mehrheit das gar nicht – und wir brauchen es auch nicht. Das darf auf gar keinen Fall passieren!
Vor welchen Aufgaben sehen Sie die ökologische Saatzucht?
Insgesamt muss die ökologische Züchtung intensiver und breiter aufgestellt werden. Wir müssen den auch im Öko-Bereich verbreiteten Hybriden starke samenfeste Sorten entgegensetzen. Und v. a. müssen wir darauf achten, dass wir unsere Verbraucher mitnehmen auf diesem Weg – darin sehe ich eine Hauptaufgabe. Auf unseren Tischen soll das stehen, was uns und unsere Kinder wirklich nährt, und die Züchtung ist da das allererste Glied. Da gut informiert zu sein – welche Sorten will ich, welche Ansprüche habe ich an den Anbau –, ist gar nicht so einfach und erfordert eine ganze Menge Wissen. Hier ist eine Aufgabe konkret für uns, das vorhandene lokale Potential zu nutzen und eine beispielhafte Zusammenarbeit zwischen Schulen, der FH Erfurt Gartenbau, der Universität Erfurt (an der ja die Schulgartenlehrer für ganz Deutschland ausgebildet werden) und uns als aktivem Gartenbaubetrieb zu gestalten.
Die Umsetzung solcher Ideen erfordert Freiräume – finden Sie diese denn manchmal?
Zu selten, aber ja – manchmal gelingt es. Dieses Jahr hatten wir z. B. eine altersgemischte Schulgruppe hier, die den ganzen Tag bei uns verbracht und kleine Filme über den Beruf des Gärtners gedreht hat. Das war toll. Einmal hatten wir eine engagierte Lehrerin, auf deren Initiative hin Schüler hier Kartoffeln, Getreide und Gemüse angebaut haben. Für die Studierenden könnten wir z. B. Feldbegehungen anbieten oder Saatgut für Sortenvergleiche bereitstellen und so für dieses Thema sensibilisieren: Welche Arten und Sorten schmecken gut, sind vital und robust in ihrer Entwicklung, sind für Schulgärten geeignet und begeistern Grundschulkinder?
Also eigentlich haben wir viele Möglichkeiten und auch Interessierte da – das muss nur kultiviert werden. Ich denke, es kommt immer darauf an, dass sich die richtigen Leute finden, und dann kann etwas sehr Schönes entstehen.
Rose Saatzucht, Erfurt, https://rose-saatzucht.de/
Veröffentlichung aus dem BioThür Magazin #6/2024, herausgegeben vom Thüringer Ökoherz e.V. - Interview und Fotos: Margret Seyboth